Streifen auf der Fensterscheibe

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Publ. 11.20.2017

Streifen auf der Fensterscheibe, Contribution by Yvonne Michalik, Berlin
Akribisch zugeschnittene dünne Streifen, die sich zu einem Muster anordnen, überall sehe ich sie seit Neuestem in Berlin Mitte. Meistens sind sie an Fensterscheiben von nicht vermieteten Länden angebracht. Beim näheren Hinsehen zeigt sich, dass der oder die Künstlerin hier wohl lange und sehr überlegt gearbeitet hat. Jeder Strich ist präzise angebracht und genau fixiert. Das Ganze ergibt ein Muster von durchdachter Achtsamkeit. Zeit und Muse müssen hier drinstecken. Dem rhythmisch hektischen Leben in Berlin gibt diese Kunst eine neue Note. Still und fein ist sie, überraschend einfach und doch kompliziert, überall aufzufinden. Doch vor allem zeichnet sie sich durch eine eigene Handschrift aus.

Wer ist die oder der Künstler, der/die sich so viel Mühe macht und davon ausgeht, dass spätestens bei Vermietung oder Abriss ihr Kunstwerk erlischt? Keine Signatur, nichts. Erst beim Babette, einer vermieteten Kneipe an der Karl-Marx-Allee, sehe ich dieselbe Handschrift. Diesmal steht auch ein Name: Birgit Hölmer.

Ein kurzes Interview mit der Künstlerin:
Können Sie über sich und Ihre Kunstausbildung etwas einleitend sagen. Welche Kunstausbildung haben Sie und gibt es vorher Werke, die zu der Idee der Cuts führten?
Ich habe Visuelle Kommunikation an der Fachhochschule Münster von 1990 bis 1995 und 1995 bis 2000 freie Kunst an der Kunstakademie Münster bei dem Konzeptkünstler Timm Ulrichs studiert. Seit 2002 lebe ich in Berlin. Es gab schon ähnliche Arbeiten mit Strukturen, z.B. Meine Utopischen Objekte von 2003. Dabei presse ich Tonkugeln durch gemusterte Gardinenstoffe. Es entsteht eine plastische Version der Gardine. Wenn die Tonobjekte gebrannt werden, löst sich die Gardine auf.

Da ich immer stark vom Material ausgehe, sehen meine Arbeiten sehr unterschiedlich aus. Sie können gegenständlich oder auch abstrakt sein. So habe ich sehr lange mit Seife gearbeitet in all ihrer Materialbeschaffenheit. Es gab auch ein Relief aus Seife, welches einen Vorhang darstellt und neben einer realen Türsituation in den Raum eingebunden ist. Auf der befindet sich Seife an den Stellen, wo die dahinterliegenden hässlichen Häuser zu sehen wären.
Danach habe ich lange Material wie schwarze Bau-Fugenmasse und Bausilikonfarbgemisch durch schwarze somit transparente Gaze mit Hilfe von Fingern und Spritzen gesiebt, um ein dahinterliegendes Waldmotiv durchzupausen. Es sind Reliefs daraus entstanden. Dabei wird die Vorderseite zur Rückseite. Da lag ein Konzept zugrunde. Genaueres siehe mein Blog.

Also das Davor und Dahinter. Das ist auch Teil meiner permanenten Wasser -Licht-Projektion in Bergkamen. Es werden Brunnenmotive aus Europa durch das Wasser projiziert und man sieht das Motiv auf der anderen Seite.

Außerdem habe ich immer gezeichnet. Es gab vorher Waldzeichnungen (auch Vorlage für die Waldstücke aus Baufugenmasse), die ich Spiegelungen nenne. Spiegelungen spielen bei den CUTS ja auch eine große Rolle.

Wie definieren Sie Ihre Kunstwerke, die Sie an die Fensterscheiben kleben. Sie nennen Sie Cuts, aber sind es eher Bilder, Objekte oder Konzepte, die Sie hier ausstellen?
Die Cuts sind Hybride, nicht eindeutig Konzept, Bild oder Objekt, von allem etwas.
Bild oder Objekt; das ist unterschiedlich. Da die CUTS sehr variieren. Meistens sind sie eher partiell auf die Scheibe geklebt, dann sind sie eher objekthaft. Manchmal wird das ganze Schaufenster mit seinen Ausmaßen mit einbezogen. Dann sind es eher Bilder.
Oft entsteht das Bild auch erst in der Abbildung des CUTS mit seinen Spiegelungen als Foto.
Wie gesagt, es ist eine Mischung aus Konzept und Bildern oder Bildobjekten. Man hört ja nicht auf zu denken, wenn man handelt. Der Umraum spielt eine Rolle. Es gibt eine Bündelung von Innen und Außen auf der Glasfläche. Das interessiert mich. Man sieht den realen Innenraum und den Außenraum als Spiegelung. Außerdem ändere ich oft mein Vorgehen bei der künstlerischen Handlung und das flexible daran interessiert mich. Die Farben und Strukturen der Klebestreifenreste, welche es nur in begrenzter Anzahl gibt, regen mich an und inspirieren mich zu immer weiteren abstrakten Formen.
Ich empfinde das auch nicht als Ausstellung, sondern eher ein Sichtbarmachen meiner Handlung und des leerstehenden Raumes.
Zum Konzept gehören auch die Rahmenbedingungen, die ich mir stecke. Dass ich fast ausschließlich auf leerstehende Ladenlokale klebe und keinen Namen hinterlasse. Das ich im Außenraum arbeite und nicht artifiziell nur im Kunstkontext, das gefällt mir gut. Und die Arbeiten sind temporär.

Warum nennen Sie sie Cuts?
Das ist simpel. Ich nenne sie Cuts, da sie erstens geschnittene Reste sind und weil sie oft aussehen wie in die Scheibe geschnitten oder zerborstene Fensterscheiben. Vor allen Dingen die Kreisformen erinnern daran.

Wie sind sie auf die Idee gekommen, in der ganzen Stadt Fensterscheiben zu nutzten. Was war der Auslöser?
Ich wollte in den Raum gehen mit meinen Zeichnungen. Aber ich wollte mir auch treu bleiben mit meiner Zweidimensionalität. Da boten sich Fensterfronten an, wo sich der Umraum bündelt. Und ich wollte nicht im Atelier, sondern draußen arbeiten. Sozusagen als urbane Entsprechung zu meinen eher klassischen Waldzeichnungen im Freien, aber mit urbanem Material. Und als ich einen leerstehenden Eckladen bei mir im Kiez gesehen habe mit Spiegeln im Schaufenster, wo man die Klebestreifen auch von der Rückseite nur weiß sehen konnte, konnte ich nicht widerstehen.

Welche Materialien benutzen Sie und woher kommen sie?
Ich benutze Klebestreifenreste von einer Druckerei. Sticker werden aus Kostengründen auf ein Blatt gedruckt und dann beschnitten. Die Klebestreifen sind also Müll. Sie kosten mich nichts, nur die Zeit, die ich benötige. Sie werden nicht extra für die Kunst hergestellt. Auf die Idee kam ich durch meine Tochter, die Sticker für Alben gesammelt hat. Ich fand die Ränder viel schöner und habe sie erst mal behalten ohne zu wissen, was ich damit machen kann. Als ich dann in eine Druckerei in Berlin kam, sah ich die Schnittreste. Da hatte ich dann die Idee.

Wie entsteht ein Kunstwerk? Wie gehen Sie vor, wenn Sie ein neues Cut erarbeiten?
Wenn ich durch Berlin fahre, halte ich Ausschau nach neuen leerstehenden Ladenflächen. Ich habe die Klebestreifen im Auto gelagert. Auch eine Leiter habe ich dabei.
Wenn ich einen Raum entdecke, der mich anspricht, und der gut gelegen ist, suche ich mir entsprechend des Raumes Streifen heraus. Ich achte dabei auf Farbähnlichkeiten des Umraumes, ob der Hintergrund dunkel oder hell erscheint. Dann beginne ich einfach ohne Vorskizze. Habe natürlich im Kopf, was ich schon gemacht habe. Ich klebe die Streifen einzeln vor Ort. Da die Streifen aber immer unterschiedlich sind, gibt es jeden CUT nur einmal.
Ich starte mit einer Bildidee, die ich aber immer wieder verwerfe und variiere. Das macht mir Spaß. Ich werde in Gespräche verwickelt und abgelenkt, wieder ändert sich meine Vorgehensweise. Ich reagiere intuitiv auf meine Umwelt und bin Teil dessen.
Die Gespräche sind auch ein wichtiger Bestandteil meiner Arbeiten. Oft wird mir etwas über den Raum erzählt oder ich werde gefragt, was für ein Laden hier entsteht oder die Leute erzählen, wo sie schon Cuts gesehen haben und freuen sich, mal ein Gesicht dazu zu sehen…

Wie wählen sie die Standorte aus?
Ich schaue, dass sich die CUTS nicht nur in einem Kiez befinden, sondern ich streue sie in ganz Berlin. So gibt es sie in Tempelhof, Mitte, Friedrichshain, Charlottenburg, Prenzlauer Berg, Wedding, Neukölln, Kreuzberg, Moabit. Meistens befinden sie sich in großen Einfahrtstraßen, wie Prenzlauer- und Schönhauser Allee, Leipziger Straße, Potsdamerstr., Kottbusser Damm …. am Alex, also mittendrin. Aber ich mag auch die stillen Seitenstraßen. Neukölln Böhmischer Platz mit einer tollen Atmosphäre. Irgendwie muss es funken zwischen mir und dem Raum.

Hatten sie schon Probleme mit Eigentümern oder Mietern?
Ja, Ärger hatte ich schon. Mehrmals wurde ich ertappt, denn ich arbeite tagsüber. Dann muss ich verhandeln. Mit der Hausverwaltung sprechen… Ich musste auch schon direkt CUTS entfernen. und man fragte mich, wie ich dazu komme, die Scheiben fremder Leute zu beschmieren. Am Anfang habe ich nachgefragt. Ein Immobilientyp hat gesagt, dass er seinen Chef fragen will, denn meine Arbeiten sähen interessant aus. Doch nach zwei Wochen hatte er den Chef angeblich nicht erreicht und würde sich nochmal melden. Als er das nicht tat, habe ich einfach begonnen. Nach 7 Wochen bekam ich eine böse Mail, ich solle sofort alles entfernen, sonst müsste ich die Kosten tragen… bis heute steht der Laden in der Potsdamer Straße leer und ist mit Plakaten beklebt. Meistens habe ich aber Glück und die Cuts sind eine Weile zu sehen.

Sind Sie enttäuscht, wenn manche Cuts verschwinden, wenn z.B. das Haus renoviert wird oder gar abgerissen?
Ja, manchmal bin ich schon etwas enttäuscht, wenn sie schnell entfernt werden. Ich hänge doch irgendwie an meinen Arbeiten. Aber das ist nur kurz. Wenn die CUTS längere Zeit zu sehen sind freu ich mich, bin ich aber auch froh, wenn sie wieder verschwinden und es neuen Raum zu suchen gilt. Das Temporäre gefällt mir gut, ist ja auch Teil des Konzepts. Mir bleiben ja die Fotos, denn ich dokumentiere die CUTS und archiviere damit auch den Ort Anschließend setze ich sie auf meinen Blog. http://birgithoelmer.blogspot.de/p/aktuell.html
Wenn ich jetzt durch Berlin fahre sehe ich die neuen veränderten, betriebsamen Orte oder wenn Gebäude verschwinden, wie z.B „Das Drive“ in in der Leipziger Strasse. Dann finde ich gut, dass es sie wirklich gab, die Auszeit mit den CUTS auf den Scheiben. Manchmal verschwinden aber auch Orte, wo es weh tut. Z.B. die Bar Babette in der Karl-Marx-Allee wird auch Opfer der Gentrifizierung. Sie muss im Oktober 2018 schließen, weil der Vertrag nicht mehr verlängert wird. Aber bis dahin gibt es da noch viel gute Kunst/ Kultur und alle 2 Monate einen neuen CUT an der Tür zu sehen.

Machen Sie das nur in Berlin oder auch an anderen Stadtorten?
Bisher arbeite ich hauptsächlich in Berlin, weil ich die meiste Zeit hier verbringe. Aber wenn ich eingeladen werde, klebe ich auch in anderen Städten und Ländern. Ich war gerade 4 Wochen in Gibraltar im Rahmen des Residency Exchange Gibraltar/Berlin von den Lichtenberg Studios. In Bayreuth hatte ich letztes Jahr ein Projekt. Doch ich habe Lust bekommen zu reisen, dann werde ich wohl immer meine Streifen dabeihaben.

Wie lange brauchen Sie für einen Cut?
Das ist unterschiedlich, aber in der Regel geht das doch recht schnell. 1 bis 4 Stunden ein Schaufenster, wenn es partiell ist. Bei größeren Cuts 2 Tage, manchmal jedoch eine Woche täglich ein paar Stunden, wenn ich das ganze Showcase mit allen Fenstern beklebe.

An was arbeiten sie zur Zeit?
Ich bin gerade aus Gibraltar zurückgekommen. Ich habe heute aber schon wieder Lust, einen CUT zu kleben. Im Moment verändert sich etwas. Ich reagiere auf vorgefundene Strukturen auf den Fensterscheiben wie z.B. Plakate, weiße Farbe, Folien und Klebestreifen von Innen…. siehe Gibraltar. Das möchte ich hier fortsetzen. Dann suche ich nach einer permanenten Variante, z.B. als Negativform der Streifen mit Spraylack auf Folien und ich will ein Heft oder Katalog veröffentlichen. Ich habe dafür das Recherchestipendium von Senat Berlin erhalten.

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2 thoughts on “Streifen auf der Fensterscheibe”

  1. In dem hektischen Berlin so was! Cool! Hut ab vor Kreativität! Echt eine visuelle Kommunikation! Soll die Schaufenster einbauen lassen. Solche ein akribisch zugeschnittenes Streifenmuster könnte ja den Laden echt individuell und authentisch machen. Die Idee soll aber, meiner Meinung nach, mit dem Geist des Ladens zusammenfallen. Wirklich eine ganz neue Note!

  2. Ich muss sagen dass ich bis jetzt noch nicht viel an Kunst interessiert war. Seit ein paar Wochen laufe ich jetzt auf dem Weg zur Arbeit an einem der beklebten Schaufenster in der Schönhauser Allee vorbei und muss gestehen dass ich an den CUTS sehr viel gefallen finde und auch schon in anderen Gegenden wie der Brunnenstr welche gesehen hab. Sehr cool und nicht schlecht wenn man sich sonst kaum mit einem bestimmten Thema auseinander setzt und einem dann auf einmal etwas ins Auge fällt dass einen wirklich irgendwie „in seinen Bann zieht“.

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